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Aufhören! Rezension des Jahrbuchs "Extremismus & Demokratie" 2016
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Das Jahrbuch "Extremismus & Demokratie" 2016 ist zugleich seine 28. Ausgabe. Es gliedert sich wie in den vergangenen Jahren auch in einen Teil zu "Analysen", zu "Daten, Dokumente, Dossiers" und einen Literaturteil. In unregelmäßigen Abständen werden im "Forum" aktuelle Themen diskutiert. Dieses Jahr ist die Alternative für Deutschland Gegenstand der Diskussion. Offensichtlich wird in diesem Jahrbuch zweierlei: Erstens scheint der Extremismusforschung, nachdem sie in den vergangenen Jahrzehnten alle Extremismen auf verschiedenste Art und Weise miteinander verglichen hat, die Ideen auszugehen. Und zweitens zeigt das Jahrbuch, dass die Analysen welche die Extremismusforschung bietet neue rechte Bewegungen nicht fassen können, sondern zu ihrer Relativierung beitragen. Deshalb ist es an der Zeit aufzuhören.
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Der einleitende Artikel von Eckhard Jesse zum "Extremistenbeschluss" von 1972 ist ein Aufguss dessen, was der Autor bereits in den 80er Jahren schrieb. Zwar nennt Jesse als aktuellen Aufhänger Landtagsdebatten um eine Entschädigung der von Berufsverboten Betroffenen, verwendet jedoch weitgehend Literatur, die bereits vor mehr als 30 Jahren erschien. Sowohl seine Hauptthese, als auch dessen Beantwortung sind nicht neu. Jesse versucht zu belegen, dass der Vorwurf, durch den Beschluss hätte das "Duckmäusertum" zugenommen, unbegründet sei. Er argumentiert, dass "deutlich unter 0,1 Prozent" (S. 15) der Bewerber_innen letztendlich abgelehnt wurde. Betroffen waren jedoch nicht nur die wenigen Abgelehnten, sondern ca. 3,5 Millionen Bewerber_innen für den öffentlichen Dienst, die ob ihrer Verfassungstreue überprüft wurden. Vor allem da die - nicht gerade für ihre transparente und demokratische Arbeitsweise bekannte - Börde "Verfassungsschutz" eine zentrale Rolle bezüglich der Einstellungspraxis spielte, ist die Verunsicherung von jungen Menschen die beispielsweise den Lehrberuf anstreben, nachvollziehbar. Wie Jesse zu leugnen, dass eine solch ausgedehnte Überprüfungspraxis negative Folgen auf das politische Klima habe, ist jedoch naiv - oder vorsätzlich.
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Der Mainzer Politikwissenschaftlers Jürgen Falter widmet sich ebenfalls einem historischen Thema, aber stellt immerhin aktuellen Forschungsergebnisse zur Mitgliederstruktur der NSDAP vor. Dabei knüpft Falter an seine Untersuchung zur Wähler_innenschaft dieser Partei an und kratzt abermals an der These, es handele sich um eine Partei der Mittelschichten. Falter stützt sich in seiner Analyse vor allem auf quantitative Daten die er anhand weniger älterer Lokalstudien ergänzt. Bezüglich der Mitgliederentwicklung und Sozialstruktur der Partei sind seine Ausführungen gewinnbringend, wenn auch aufgrund der unzureichenden Quellenlage manche Leerstellen bleiben. Obwohl Falter diese Leerstellen selbst benennt, schreckt er nicht vor Spekulationen darüber zurück, welcher Anteil der Parteimitglieder überzeugte Nationalsozialist_innen waren und welche aus opportunistischen Gründen beitraten. Einerseits fehlen Falter zeitgenössische Umfragen und andererseits dient jeweils der Zeitpunkt des Parteieintritts als Ankerpunkt für seine Spekulationen - eine anschließende Ideologisierung wird nicht in Betracht gezogen. Seine Schlussfolgerung "Typische NSDAP-Mitglieder dürften folglich eher die opportunistischen Mitläufer als die weltanschaulichen 150-prozentig Überzeugten gewesen sein" stellt eine nicht ausreichend belegte Spekulation ideologischer Momente unter den NSDAP-Mitgliedern dar.
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In den Reigen der historisch ausgerichteten Beiträge fügen sich die Ausführungen des Rostocker Historikers Werner Müller zu "Sechzig Jahre nach dem KPD Verbot" ein. Er nimmt das 60jährige Jubiläum und die Reaktionen verschiedener Vertreter_innen linker Parteien zum Anlass, um auf die Maßnahmen gegen Kommunist_innen in der Nachkriegszeit und das Parteienverbot von 1956 einzugehen. Leider verpasst es Müller einschlägige neuere Literatur zu dem Thema, wie die 2013 erschienene Monografie von Dominik Rigoll zu "Staatsschutz in Westdeutschland" in seinem Aufsatz zu berücksichtigen, sodass die kundige Leserin wenig neues verfährt.
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Vergleichende Beiträge wie jener von Matthias Garbert zur Sauerlandgruppe und dem NSU oder von Isabelle-Christine Panreck zu den Wochenzeitungen der freitag und Junge Freiheit dürfen im Jahrbuch selbstverständlich nicht fehlen, bergen aber wenig neue Erkenntnisse. Positiv sticht hingegen der Beitrag von Alexander Kühn über die Partei der Christlichen Mitte und ihre Zeitschrift hervor. Der Artikel endet mit der Feststellung: "Untersuchungen, welche die Christliche Mitte aus der Extremismusperspektive betrachten fehlen bisher gänzlich. Dies wird der Gefährlichkeit ihrer Glaubensinhalte, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat, nicht gerecht" (S. 275). Diese Lücke kann auch Kühn nicht füllen. Zwar enthalten seine Ausführungen einen guten Überblick zur Struktur der Partei und ihren Kernthemen. Auch arbeitet der Autor die Positionen zum Islam, Homosexualität, Familie und Abtreibung heraus, verpasst aber eine Einordnung in extremismustheoretische Kategorien. Dies würde zeigen, dass die Partei aufgrund ihrer internen Struktur, ihrer radikalen Ablehnung Andersgläubiger und Nicht-Heterosexueller, sowie ihrer geringen Wertschätzung für demokratische Werte, als extremistisch zu bewerten wäre. Offensichtlich scheut sich die Extremismusforschung davor Gruppen, die nicht zu den "üblichen Verdächtigen" gehören, zu analysieren. In sämtlichen 28 Ausgaben des Jahrbuchs ist lediglich 2002 ein Beitrag zu christlichen Gruppen vorhanden. Die offensichtlichen thematischen Überschneidungen zwischen konservativen Politiker_innen und christlicher Fundamentalist_innen bei Fragen der Abtreibung, Familie oder Rechte für Nicht-Heterosexuelle würden den berechtigten Zweifeln an der behaupteten Grenze zwischen Demokrat_innen und Extremist_innen neue Nahrung geben. Und leider verpasst es auch Kühn die Anschlussfähigkeit der Positionen der Christlichen Mitte in die Mitte der Gesellschaft nachzugehen.
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Die Diskussion um die Einschätzung der AfD verspricht neue Erkenntnisse über die Partei und eine gewisse Kontroversität, da die Herausgeber hier "dem (Wissenschafts-)Pluralismus Rechnung tragen" möchten (S. 114). Ihre Fragen an drei ausgewählte Wissenschaftler beziehen sich auf die Einordnung der AfD als rechtspopulistisch, das Verhältnis der Partei zu den Grundlagen demokratischer Verfassungsstaaten, ihre inhaltlichen Positionen, das Verhältnis zu den anderen Parteien und eine mögliche Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Bevor Frank Decker, Torsten Oppelland und Werner Patzelt auf die Fragen antworten, kommen Jörg Meuthen und Frauke Perty zu Wort, "um das Selbstverständnis der Partei zu dokumentieren" (S. 114), wie die Herausgeber schreiben. Es verwundert kaum, dass die beiden Vorsitzenden der AfD das Forum nutzen, um für ihre Positionen zu werben, den Vorwurf des Extremismus zurückweisen und sich als "grundgesetztreu und rechtsstaatsverliebt" zu präsentieren (S. 116).
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Frank Decker klassifiziert die AfD als rechtspopulistische Partei mit rechtsextremen Einsprengseln, die "weiterhin innerhalb des demokratischen, nicht systemfeindlichen Spektrums" zu verorten ist. Während Decker den Entstehungskontext (Bund freier Bürger, Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Zivile Koalition, Sarrazindebatte) gut darstellt, sind seine Vorschläge zur Entgegnung der AfD streitbar: "eine realistische Zuwanderungspolitik, die die Grenzen der Aufnahmefähigkeit beachtet" (S. 122). Dieser Forderung könnte sich wohl auch die AfD anschließen, mit einer spezifischen Interpretation darüber, wo die Grenzen der Aufnahmefähigkeit liegen.
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Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Torsten Oppelland, der die AfD als rechtspopulistisch und innerhalb des demokratischen Spektrums sieht. Seiner weiteren Analyse legt er vor allem das am 1. Mai 2016 verabschiedete Programm der AfD zugrunde. Dabei lässt er stellenweise die analytische Distanz vermissen. Oppelland zieht eine deutliche Grenze zwischen AfD und NPD, begründet diese aber lediglich mit einer Selbstaussage der AfD. Die Partei sei nicht rechtsextrem wie die NPD, da sich ihre Mitglieder "in ihrem Grundsatzprogramm als "Liberale und Konservative" als "freie Bürger unseres Landes" und als "überzeigte Demokraten" definieren" (S. 125). An dieser Stelle sei nur daran erinnert, dass sich auch die NPD offiziell zur FdGO bekennt. Die Ausführungen von Björn Höcke verbucht Oppelland als unter "Verbalradikalismus" (S. 123).
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Auch Werner Patzelt schließt sich im Großen und Ganzen den Einschätzungen seiner Kollegen an. Er bemerkt jedoch, dass sich der Populismusbegriff nur bedingt eignet, da er vor allem einen politischen Stil beschreibt. Zwar erkennt er bei einem "Großteil der AfD-Mitglieder und AfD-Wähler islamophobe und (übergeneralisierte) muslimfeindliche Positionen" (S. 131), sowie "eine minoritäre Akzeptanz von Antisemitismus und kulturalistischem Rassismus" (S. 130), kommt jedoch zu dem Schluss: "Insgesamt gibt es keinen Grund, die AfD als "außerhalb des demokratischen Spektrums" befindlich einzuschätzen." (S. 130)
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Alle drei Beiträge zeigen das Problem der Extremismsforschung in der Auseinandersetzung mit der AfD (und anderen neurechten Bewegungen) deutlich. Ihrer Analyse legen sie ein Extremismusbegriff zugrunde, der sich antithetisch zum demokratischen Verfassungsstaat verhält. Da die AfD nicht gegen dessen Grundlagen agitiert, gilt sie im Umkehrschluss als demokratisch. Folglich gelten auch ihre Positionen als legitimer Bestandteil demokratischer Auseinandersetzungen. Die vorgelagerte Unterscheidung zwischen demokratisch und extremistisch führt also dazu, dass der Rassismus, Sexismus, Antisemitismus etc. der AfD zwar kritisch beurteilt, aber mit demokratischen Weihen versehen wird. Somit trägt die Extremismusforschung mit ihren Analysekriterien zur Ausdehnung des Sagbarkeitsfeldes für menschenfeindliche Positionen bei. In ihrer demokratietheoretischen Einschätzung der AfD sind sich die Partei selbst, der Verfassungsschutz und die Extremismusforschung einig. Eine Verabsolutierung der Unterscheidung demokratisch/extremistisch, geht mit einer Vernachlässigung der Analyse menschenfeindlicher Positionen der Partei einher. Verfassungsschutz und Extremismusforschung können aufgrund ihrer konzeptionellen Grundlagen keine Lösungen im Umgang mit der AfD geben, sondern präsentieren sich regelmäßig als Teil des Problems.
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Seit mehr als 30 Jahren treibt die Extremismusforschung ihre Unwesen und bestückt fast ebensolang jährlich Universitätsbibliotheken und die Regale der Verfassungsschutzbehörden mit ihrem Jahrbuch. Lesenswerte Impulse waren auch dieses Jahr Mangelware. Mag einem die inhaltliche Ausrichtung der meisten Beiträge nicht gefallen, waren sie zeitweise zumindest Teil aktueller Debatten. Dies konnte in diesem Jahr nur die Forumsdiskussion über die AfD leisten. Hier zeigt sich aber, dass die Extremismusforschung einem Schutz eines demokratischen Zusammenlebens und dem Eintreten gegen Menschenfeindlichkeit im Wege steht. Es wird höchste Zeit, dieses Treiben zu beenden.
Maximilian Fuhrmann, Universität Bremen
NSU aufgrund der Extremismusperspektive nicht erkannt?
Für Andreas Speit (Journalist der TAZ und der Fachzeitschrift Der Rechte Rand sowie Buchautor zum Thema Neonazismus) lässt sich das Versagen der Behörden in Sachen NSU auch mit dem, in den Behörden vorherrschenden, Extremismusmodell erklären. "Die Sicherheitsbehörden", so Speit, "versagten, weil ihre Extremismustheorie nicht zwischen rechts und links unterscheidet."
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